Wie wirkt medizinisches Cannabis?

Es gibt körpereigene Moleküle, die den Cannabinoiden aus der Cannabispflanze sehr ähnlich sind und die genau an die gleichen Rezeptoren andocken.

Erfahre hier mehr über das sogenannte Endocannabinoidsystem.

Auch wenn Cannabis als Medizin bereits in den ersten Medizinbüchern und Überlieferungen auftaucht und Forscher den Einfluss von Cannabis auf den menschlichen Organismus erforschen, konnte man die genaue Wirkung auf den menschlichen Körper bis heute nicht genau erklären. 

Es sind ca. 600 verschiedene chemische Bestandteile des Cannabis bekannt, darunter mehr als 100 Cannabinoide. Die bekanntesten Cannabinoide sind Delta-9-Tetrahydrocannabinol (THC) und Cannabidiol (CBD). 

Diese Cannabinoide docken in unserem Körper an spezielle Rezeptoren im Nervensystem an. Das klingt so, als wäre unser Nervensystem darauf spezialisiert, mit Cannabis und seinen Inhaltsstoffen in Kontakt zu kommen und im Grunde stimmt das auch. Es gibt körpereigene Moleküle, die den Cannabinoiden aus der Cannabispflanze sehr ähnlich sind und die genau an die gleichen Rezeptoren andocken. Sie heißen Endocannabinoide (endo = im Körperinneren) und gehören zum sogenannten Endocannabinoidsystem.

Das Endocannabinoidsystem

Was ist das Endocannabinoidsystem?

Das Endocannabinoidsystem (ECS) ist an zahlreichen Prozessen des menschlichen Körpers beteiligt. Es ist für den Erhalt einer innerlichen körperlichen Balance zuständig, der sogenannten Homöostase. Dabei kontrolliert und reguliert das ECS viele wichtige Körperfunktionen, darunter Lernen und Gedächtnis, emotionale Verarbeitung, Schlaf, Temperaturkontrolle, Schmerzkontrolle, Entzündungs- und Immunreaktionen und Hunger. Ein Beispiel für die Funktion des Endocannabinoidsystems ist seine Schlüsselrolle in unserem Schlaf-Wach-Zyklus. Die Kurve von Wachheit und Schlaf ist eine perfekte Demonstration von Homöostase. 

Trotz dieses Wissens sind die Kenntnisse über das Zusammenspiel von Cannabis und dem ECS noch sehr begrenzt. Doch auch schon mit mangelnden Kenntnissen ist man sich sicher, dass das Endocannabinoidsystem für nahezu jedes Organ essenziell ist. Dabei hat das System nicht, wie viele andere Systeme, nur eine Funktion, sondern ist in den einzelnen Zellen für hunderte Funktionen verantwortlich.

Wie funktioniert das Endocannabinoidsystem?

Unser Nervensystem überträgt im Körper Informationen und Anweisungen an die einzelnen Zellen, was wann zu tun ist. Das Endocannabinoidsystem funktioniert in diesem System wie eine “Lesebestätigung”. D.h. es sendet das Signal in entgegengesetzte Richtung, was man retrograde Signalübertragung nennt. Dank des ECS weiß der Absender, dass seine Nachricht angekommen ist. Das hört sich erstmal banal an, ist aber von entscheidender Bedeutung, wie unsere Organe zusammenarbeiten und eine Einheit bilden. 

Dabei regelt das Endocannabinoidsystem viele Funktionen unseres Körpers, darunter Schlaf, motorische Fähigkeiten, Herzgesundheit, Gedächtnis, Stimmung, Schmerz, Appetit, Knochenwachstum, Stoffwechsel, Leberfunktion, Stress, Fortpflanzung, sowie der Gesundheit von Haut und Bindegewebe.

Das ECS besteht im Wesentlichen aus drei verschiedenen Komponenten: den Endocannabinoiden, den passenden Rezeptoren und Enzymen.

Die Endocannabinoid-Rezeptoren sind dabei der Teil des Systems, der die Aktion ausführt. Sobald die Rezeptoren aktiviert werden, leiten sie eine Aktion ein. Diese Rezeptoren findet man in beinahe jeder Zelle des Körpers. Die Rezeptoren agieren mit den Endocannabinoiden nach dem Schlüssel-Schloss-Prinzip. Dabei bilden die Rezeptoren das Schloss und die Endocannabinoide die Schlüssel. 

Man unterscheidet zwischen CB1- und CB2-Rezeptoren. CB1-Rezeptoren befinden sich hauptsächlich im ZNS (Rückenmark und Gehirn). Die CB2-Rezeptoren sind vor allem in den inneren Organen und dem peripheren Nervensystem zu finden, sowie in den Immunzellen. Es gibt aber bereits Hinweise, dass es mindestens einen Rezeptor gibt.

Aktiviert werden die Rezeptoren durch die Endocannabinoide. Das sind chemische Botenstoffe, die den Rezeptoren den Befehl geben, was zu tun ist. Im menschlichen Körper sind bisher zwei Endocannabinoide bekannt: Anandamid (Arachidonylethanolamid) und 2-AG (2-Arachidonoylglycerol). Cannabinoide, die von Pflanzen produziert werden, nennt man Phytocannabinoide (phyto = aus Pflanzen stammend). Hanf ist dabei die wertvollste und wirksamste Quelle für Stoffe, die mit dem ECS interagieren. 

CB1-Rezeptoren

An die CB1-Rezeptoren bindet Anandamid, aber auch THC und CBD können an diesen Rezeptor binden. Dabei sind folgende Effekte zu beobachten: 

  • positive Gefühlsveränderung
  • Freude und Entspannung
  • verbesserte Gedächtnisfunktion
  • Schmerzregulierung
  •  Durchblutung des Gewebes.

CB2-Rezeptoren

Die Aktivierung des CB2-Rezeptors durch 2-AG, sowie THC und CBD, hat vor allem einen regulierenden Einfluss auf 

  • Abwehrreaktionen
  • die Ausschüttung von Botenstoffen des Immunsystems
  • das Schmerzempfinden
  • die Entzündungsprozesse.

CBD bindet dabei nicht direkt wie THC an CB1 und CB2, sondern moduliert nur deren Aktivität. Dabei wirkt CBD gegen die Produktion des Enzyms, das Anandamid abbaut. Dadurch erhöht CBD die Menge und Dauer von Anandamid im Gehirn, das wiederum an CB1 bindet. 

Sobald die Botenstoffe ihre “Nachricht” überbracht haben, werden sie von den Endocannabinoid-Enzymen vernichtet. Diese Enzyme sind eine Proteinart, die Stoffe zersetzt. Sie fungieren quasi wie eine Entsorgung. Denn Endocannabinoide werden nur nach Bedarf produziert und anschließend vernichtet. Das ist auch der entscheidende Unterschied zu anderen Botenstoffen, z.B. Neurotransmittern, die “immer auf Vorrat” vorhanden sind. Die Enzyme sind auch dafür zuständig, die Endocannabinoide überhaupt erst zu produzieren. Anandamid wird vom Enzym FAAH zersetzt, 2-AG dagegen vom Enzym MAGL.

YouTube

Mit dem Laden des Videos akzeptieren Sie die Datenschutzerklärung von YouTube.
Mehr erfahren

Video laden

© Aurora Europe

Die Entdeckung des Endocannabinoidsystems

1988 entdeckte ein Team aus Wissenschaftlern, dass von der US-Regierung finanziert wurde, eine Rezeptorart, die auf Hanfextrakt reagiert. Das waren die CB1-Rezeptoren. Durch einen THC-analogen Stoff des Pharmaunternehmens Pfizer gelang es, die Positionen der Rezeptoren im Körper zu ermitteln und radioaktiv zu markieren. Dabei stellte man fest, dass die Rezeptoren im Gehirn in viel größerer Zahl vorhanden sind als alle anderen Botenstoffe. Das führte schließlich auch zur Entdeckung der CB2-Rezeptoren. 

1992 entdeckte eine Forschungsgruppe um Raphael Mechoulam erstmals einen körpereigenen Stoff, der mit den Rezeptoren interagierte. Man nannte diesen Stoff “Anandamid” (abgeleitet vom sanskrintischen Wort für “Glückseligkeit”).

Weitere drei Jahre vergangen, bis dieses Team auch das Endocannabinoid 2-AG entdeckte. 

Doch bis das Endocannabinoidsystem in all seinen Facetten und Funktionen komplett verstanden sein wird, steht der Forschung noch ein langer Weg bevor.

Der Endocannabinoidmangel

Da das Endocannabinoidsystem einen so großen Einfluss auf unsere Gesundheit und unser Wohlbefinden hat, ist es nur logisch, dass eine Dysfunktion oder Probleme des ECS auch zu Gesundheitsbeschwerden führen kann. Dies bezeichnet man als klinischen Endocannabinoidmangel (CED). 

Theorien gehen davon aus, dass so ein Mangel auch die Grundursache von einigen idiopathischen Gesundheitsbeschwerden (ohne klare Ursache) sein könnte, z. B. Migräne, Fibromyalgie oder Reizdarmsyndrom.

Dass diese Theorie durchaus vielversprechend ist, hebt auch Ethan Russo, ein bekannter Hanfforscher, hervor. Möglicherweise ist ein Endocannabinoidmangel auch Ursprung anderer Krankheiten, wie Alzheimer, Parkinson oder Depressionen. Nachgewiesen werden konnte dies bisher noch nicht, widerlegt werden allerdings auch nicht.

Doch was führt zu einem Endocannabinoidmangel? Bisher gibt es leider nur Vermutungen für eine Antwort auf diese Frage. Möglicherweise produziert der Körper nicht genügend Enzyme, die wiederum die Endocannabinoide herstellen. Es werden demnach nicht genügend produziert. Vielleicht stehen im Körper aber auch nicht ausreichend Rezeptoren zur Verfügung. 

Bisher ist lediglich bekannt, dass jeder Mensch einen individuellen Endocannabinoid-Tonus aufweist, der die Menge angibt, der die Menge angibt, die vom Körper selbst produziert wird. Dieser Tonus unterliegt verschiedenen Faktoren, wie Genetik, Ernährung oder sportlicher Bewegung, die ihn beeinflussen.

Eine Studie von Dr. Ethan Russo (2004) liefert Hinweise darauf, dass die Konzentration an Anandamid während der Migräneattacken vermindert ist. In dieser Studie wird auch deutlich, dass Migräne, Fibromyalgie und das Reizdarmsyndrom in ihrer Entstehung eine Gemeinsamkeit aufweisen: Serotonin spielt eine wichtige Rolle.

Das lässt den Schluss zu, dass eine Kontrolle oder Manipulation des Serotoninspiegels ermöglichen könnte, diese Erkrankungen zu behandeln. Cannabinoide sind in der Lage, den Serotoninspiegel zu beeinflussen. 

Untersuchungen weisen zudem auf mögliche Verbindungen eines sehr niedrigen Endocannabinoid-Tonus und folgenden Krankheiten hin:

Depressionen, Angststörungen, PTBS, Multiple Sklerose, Huntington Krankheit, Kinetose, Bipolare Störung, übermäßiges Erbrechen während der Schwangerschaft, wiederholte Fehlgeburten, Phantomschmerzen der Gliedmaßen, Glaukom, ADHS, Schlafstörungen und Parkinson.

MS-Patienten zeigen z.B. signifikante Defizite an Anandamid und 2-AG auf. 

Potenzielle Anzeichen eines Endocannabinoidmangels können vielfältig sein. Dazu zählen eine schlechte Funktion des Verdauungssystems, Stimmungsstörungen oder -schwankungen, aber auch gestörte Schlafzyklen und eine erhöhte Schmerzempfindlichkeit, ebenso wie autoimmune Dysfunktionen.

Was versteht man unter dem Entourage-Effekt?

Cannabis hat zweifellos etwas Besonderes, was diese Pflanze ausmacht. Denn in Hanf steckt noch viel mehr als nur THC und CBD. Die mehr als 600 Inhaltsstoffe und Verbindungen in der Cannabispflanze, darunter über 200 Terpene und mehr als 100 Cannabinoide, wirken in Synergie zusammen. Sie verstärken sich gegenseitig und beeinflussen einander positiv. Ganz nach dem Motto: Das Ganze ist mehr, als die Summe seiner Teile.

Ganz nach dem Motto: Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile.

Dieses Phänomen wird als “Entourage-Effekt” bezeichnet. Der Begriff stammt vom israelischen Cannabisforscher Raphael Mechoulam. Das European Journal of Pharmacology veröffentlichte 1998 eine Arbeit mit seinem Team, in der er den Entourage-Effekt beschreibt.[1] Er geht darauf ein, dass die Wirkung von Cannabis nicht ausschließlich auf die einzelnen Bestandteile der Pflanze zurückzuführen ist, sondern vielmehr auf die Art und Weise, wie sie im Körper interagieren. Insbesondere die verschiedenen Terpene scheinen einen nicht zu unterschätzenden zu haben. 

Zu diesem Schluss kommt auch eine 2011 veröffentlichte Übersichtsarbeit im British Journal of Pharmacology. Demnach sei die gemeinsame Einnahme von Cannabinoiden und Terpenen bei vielen Beschwerden von Vorteil , darunter Schmerzen, Infektionen, Entzündungen, Epilepsie und Angstzustände.[2]  In der Arbeit wird auch beschrieben, dass CBD die durch THC verursachten Nebenwirkungen abmildern kann. Ein allgemeingültiges ideales Verhältnis von THC und CBD gibt es nicht. Jeder Patient muss individuell eingestellt werden. 

Einige andere Autoren halten den Entourage-Effekt dagegen für eine subjektive Wahrnehmung, da sie keine Veränderung der Wirksamkeit der Cannabinoide durch die Zugabe von Terpenen feststellen konnten.[3]

Auch wenn noch unklar ist, ob und wie Terpene mit verschiedenen Cannabinoiden interagieren, ist festzustellen, dass unterschiedliche Cannabissorten unterschiedliche Wirkungen hervorrufen. Dies könnte mit dem Entourage-Effekt erklärt werden, da jede Sorte auch eine etwas andere Zusammensetzung an Terpenen und Cannabinoiden aufweist. 

Die Überzeugung, dass die Stärke des medizinischen Cannabis im Zusammenspiel der verschiedenen Inhaltsstoffe liegt, zeigen auch die Erfahrungen von Patienten und Forschern mit Dronabinol. 

Dronabinol ist ein synthetisches reines THC, das 1985 in den USA zugelassen wurde. Es ähnelt strukturell sehr stark dem natürlichen THC, trotzdem soll sich die Wirkung stark unterscheiden. Viele Patienten empfanden die Wirkung des synthetischen THC als zu stark und unangenehm, im Vergleich zur selben Dosierung des kompletten Spektrums. Die immensen Unterschiede bezüglich der Wirkung von Dronabinol und natürlichem THC lassen sich sehr wahrscheinlich auf den Entourage-Effekt zurückführen.

Die Wissenschaft ist demnach noch uneinig und es besteht damit ein großer Forschungsbedarf.

Du möchtest keine neuen Inhalte verpassen?